Auszug aus »Stronbart Har«:
Er ging in die Richtung weiter, die den stärksten
Anstieg hatte, um zur Spitze der Erhebung zu gelangen. Durch die alles
durchdringende Nässe des Sumpfes war auch hier der Boden aufgeweicht
und glitschig. Brad rutschte aus und fluchte.
»Nicht so laut!« sagte eine Stimme.
Er blieb stehen und seine Hand zuckte zu der Stelle, wo er den ihm auf seltsame Weise zurückgegebenen Dolch wußte.
»Was ist? Willst du ewig dort herumstehen?« fragte die Stimme gelangweilt. Sie schien einem Mann zu gehören, keinem Dämon.
Zögernd stieg Brad weiter hinauf, bis er zu einer Stelle kam, an der
auf dem Hügel wie bei einem Festpunkt ein Haufen poröser, grünbemooster
Steinblöcke aufgetürmt war. Nur wußte Brad, daß es in diesem Teil des
Stronbart Har gar keine Festpunkte gab. Einer der Blöcke war
ausgewaschen oder bearbeitet, so daß er wie ein Sessel aussah. In ihm
saß ein Mann. Also gab es hier doch Menschen!
Der Mann sah kurz von einer Landkarte auf, die er studierte, und nickte
ihm geistesabwesend zu. »Hallo«, sagte er freundlich. Doch eine Sekunde
später blickte er Brad überrascht an. »Entschuldige, aber ich wandere
schon so lange einsam herum, daß mir im ersten Augenblick gar nicht
auffiel, wie seltsam es ist, einen anderen Wanderer zu treffen. Das ist hier nämlich nicht üblich.«
»Kann ich mir vorstellen!« sagte Brad. »Wie kommt es, daß du hier herumwanderst?«
»Eine gute Frage!« sagte der Mann strahlend. Dann runzelte er die Stirn
und sah sich um, als bemerke er erst jetzt, wo er war. War er verrückt
oder so etwas? »Das ist der Stronbart Har, der Fluchwald von Horam
Schlan, nicht wahr?« Brad nickte zurückhaltend. »Siehst du, ich bin
halt eben ein Wanderer. Ich habe hier Karten von allen möglichen
Gebieten«, er klopfte auf die zahlreichen Taschen seiner graugrünen
Jacke, »sozusagen billig erworben, verstehst du, und da ich gerade
nichts anderes zu tun habe, wandere ich eben herum und sehe mir die
Gegend an. Hier bin ich oft. Es ist so schön ruhig. Nicht wie auf Kator
beispielsweise. Da ist Krieg. Bisher habe ich im Stronbart Har noch nie
jemanden getroffen. Scheint nicht gerade ein beliebtes Wanderziel zu
sein. Wohin willst du?« fragte er plötzlich.
Brad fühlte sich irgendwie merkwürdig. Träumte er das, oder war das
einfach ein Verrückter, den es in den Fluchwald verschlagen hatte? Da
sich seine Gedanken geraume Zeit mit nichts anderem beschäftigt hatten,
antwortete er fast automatisch: »Zu einem Tempel, Somdorkan heißt er,
glaube ich.«
»Aha«, machte der Wanderer und sah ihn nachdenklich an, »da ist lange
niemand gewesen. Nur Zauberer, die suchten ihn manchmal ohne großen
Erfolg ...«
Brad horchte auf. »Was weißt du darüber?« fragte er verwundert.
»Nichts, nichts. Ich bin nur der Wanderer.« Der Mann strich sich über
seinen Bart. »Wenn du unbedingt zum Tempel willst, wirst du vielleicht
sogar hinkommen. Möglicherweise aber gerade dann, wenn es dir am
wenigsten paßt. Doch vergeude keine Zeit, deine Gefährten werden schon
ungeduldig.« Er wedelte mit der Hand.
Fast gegen seinen Willen setzte sich Brad in Bewegung. Er kam überhaupt
nicht auf die Idee, den Mann mitzunehmen, oder ihn zu fragen, was er
von seinen Gefährten wußte.
Als er sich noch einmal umblickte, konnte er ihn gerade noch hinter den
Bäumen verschwinden sehen. Er schüttelte den Kopf und ging weiter.
Bereits wenige Schritte später wurde ihm bewußt, daß er sich schon
nicht mehr an Gesicht und Äußeres des Mannes erinnern konnte. Eine
Jacke mit vielen Taschen, ein Bart ... War er jung oder alt
gewesen? Hatte er Gepäck bei sich gehabt?
Ein Frösteln überlief Brad. Die Begegnung war so normal gewesen,
doch nachträglich erschien sie ihm immer unnatürlicher. Ein Traum?
Wahrhaftig geschehen? Er konnte sich für keine Variante entscheiden.